Lukrativer Spieltrieb – Quests als neuer Hit der Unterhaltungsbranche

Die Entertainmentindustrie ist vielfältig, wie überall in der Welt auch in Russland. Einer der neuesten Trends sind sogenannte Quests – interaktive Rätselspiele unterschiedlicher Art. In Russland wächst das Quest-Geschäft trotz der allgegenwärtigen Krisenstimmung stetig an. Erste Ableger werden bereits ins Ausland exportiert.

Von Peggy Lohse

Spielleiterin Oxana Nikulina (2.v.r.) brachte Margarita Orlenko einst zu Questoria. "Karibik-Kurier", Questoria-Twer

Spielleiterin Oxana Nikulina (2.v.r.) brachte Margarita Orlenko einst zu Questoria. „Karibik-Kurier“, Questoria-Twer / P. Lohse

Ein Gedichtwettbewerb im Salon der adligen Anna Pawlowna: Vier mehr oder minder begabte Poeten konkurrieren um Preisgeld, Publikation und die Hand der Hausherrin. Parallel muss eine mysteriöse Mordserie aufgeklärt werden. „Silbernes Zeitalter“, Beginn des 20. Jahrhunderts. Oder: Eine Gruppe Schiffbrüchiger landet auf einer karibischen Insel. Die Einheimischen, Engländer, Piraten und ein Spanier müssen einen Gouverneur wählen, dem Vulkanausbruch entgehen, einen längst vergangenen Mord aufklären und einen Schatz finden.

Erst Ende April fand in Moskau die erste Quest-Nacht Moskaus statt. 22 Anbieter veranstalteten eine ganze Nacht hindurch in verschiedenen Locations der Hauptstadt Performance-, Aktions- und Rätselspiele für hunderte Spielwillige. Format und Konzeption sind vor etwa einem Jahrzehnt aus dem englischsprachigen Ausland nach Russland gekommen, die Branche ist noch jung. Einer der bereits etablierten Rollen- spielanbieter ist Questoria, gegründet 2009 in St. Petersburg. Zu ihren Szenarien gehören auch das „Silberne Zeitalter“ und der „Karibik-Kurier“. Mittlerweile gibt es 65 Distributionen in sechs Ländern, neben Russland in der Ukraine, Weißrussland, Kasachstan, Kirgistan und in Thailand. Verhandlungen laufen mit bislang vor allem russischsprachigen Interessenten in der ganzen Welt, darunter auch in den Auslandsrussen-Hochburgen USA, Deutschland und Großbritannien.

Aber was ist eigentlich genau ein Quest? Das Wort ist englisch für „Suche“. Praktisch ist es ein lebendiger Krimi, die logische Weiterentwicklung von Detektivromanen und „Tatort“-Serien: In Rollenspielen müssen Aufgaben erfüllt, Rätsel gelöst, Mörder oder Schätze gefunden werden. In unterschiedlichste Szenarien versetzt, wird der geneigte Spieler so zum karibischen Piraten, Salon-Poeten, Geister beschwörenden Schamanen oder hinterlistigen Vampir.

Das Format ist klar, aber wie wird aus einem einfachen Spiel ein echtes, lukratives Geschäft? Im Grunde wie in der Unterhaltungs- und Event-Branche überhaupt: Man bietet den Menschen Erlebnisse als Produkt. „Das erhöht den Druck, denn wenn das Resultat dem Kunden nicht gefällt, kann er es nicht zurückgeben“, betont die Questoria-Chefin in Moskau, Margarita Orlenko.

Questoria funktioniert nach dem Franchising-Prinzip. Der St. Petersburger Franchisegeber verkauft die Nutzungsrechte seines Questoria-Geschäftskonzeptes an regionale Niederlassungen. Diese profitieren dann vom bereits erarbeiteten Markennamen und verbreiten ihn gleichzeitig weiter, nutzen die bereits bestehenden bürokratischen Strukturen sowie die ausgearbeiteten Sujets, Werbe- und PR-Kanäle. Im Gegenzug geht ein Teil der Einnahmen der Franchisenehmer „zurück“ an die Zentrale.

Margarita Orlenko (links hinten) im “Silbernen Zeitalter”

Margarita Orlenko (links hinten) im “Silbernen Zeitalter” / P. Lohse

Orlenko hat vor sechs Jahren die Moskauer Questoria-Distribution gegründet. „Damals noch für etwa 25 000 Rubel“, lacht sie. Zum damaligen Zeitpunkt waren das umgerechnet 658 Euro. Heute kostet ein Zuschlag für Städte mit mehr als drei Millionen Einwohnern 153 638 Rubel (nach aktuellem Wechselkurs 2062 Euro). Die Zentrale vergibt jeweils nur einen Zuschlag pro Stadt. Je weniger Einwohner eine Stadt hat, desto niedriger sind die zu erwartenden Einnahmen und damit auch Zuschlagspreise als auch die sogenannten Royalty-Gebühren an die Zentrale. In Moskau beträgt diese aktuell 35 Prozent, in Städten mit weniger als einer halben Million Einwohnern beispielsweise nur 15 Prozent der Einnahmen. Dafür werden von der Questoria-Zentrale immer neue Sujets sowie entsprechende Materialien – Geschichte, Rollenbeschreibung, Zielstellungen – erarbeitet. Werbung erfolgt vor allem über die Internetseite, Suchmaschinen, soziale Netzwerke, Geschäftspartner im Bereich der Unterhaltungsbranche. „Das sind etwa 50 Prozent, die andere Hälfte der Werbung läuft über ‚Mund- zu-Mund-Propaganda‘“, erzählt Orlenko.

Die ersten zwei Jahre hat sie das Hauptstadt-Questoria als Hobby betrieben. „Ich war Bankangestellte. Den langweiligen Arbeitsalltag habe ich mit den Quests am Abend und Wochenende ausgeglichen“, so Orlenko. Nach drei Jahren der Elternzeit mit ihrer Tochter ist sie dann nicht mehr in die Bank zurückgekehrt, sondern betreibt die Rollenspielerei nun hauptberuflich – ohne, wie sie sagt, Abstriche machen zu müssen.

50 000 bis 130 000 Quests veranstaltet das Moskauer Questoria jeden Monat in der Hauptstadt und der näheren Umgebung. „Hochsaison ist der Dezember mit all den Silvesterparties“, ergänzt Orlenko. Dazu zählen die regelmäßigen offenen Spieleabende wie im Kulturzentrum „Schurawl“ am Siegespark, aber auch Familienfeste, Kindergeburtstage und Firmenfeiern. Einzige Teilnahmebedingung – lesen können. Gespielt werden kann mit acht, aber auch mit 82 Jahren; mit sieben oder 150 Personen. Einige Sujets gibt es auch für englischsprachige Gruppen. Die öffentlichen Quests kosten die Teilnehmer in Moskau etwa 700 bis 800 Rubel (etwa 10 Euro), bestellte Quest-Abende zu bestimmten Anlässen zwischen 10 000 und 60 000 Rubel (etwa 133 bis 800 Euro), abhängig von den gewünschten Dienstleistungen. Etwa 20 Spielleiter beschäftigt Orlenko in Moskau als Freelancer auf Honorarbasis.

Quest-Vorbereitungen: Rollen wählen, lesen und kennenlernen. "Karibik-Kurier", Questoria-Twer

Quest-Vorbereitungen: Rollen wählen, lesen und kennenlernen. „Karibik-Kurier“, Questoria-Twer / P. Lohse

Trotz zunehmender Konkurrenz ist Orlenko selbstbewusst und zuversichtlich: „Ich habe viel gelernt bei Questoria, mich auch als Persönlichkeit weiterentwickelt.“ Und die finanzielle Krisenstimmung? „Unsere Zielgruppe hat sich gewandelt: Jetzt machen wir mehr Kindergeburtstage“, erklärt die Questoria-Moskau-Chefin, „Unsere Einnahmen wachsen noch immer, vielleicht etwas weniger, als es ohne Krise wäre. Die Menschen geben zwar nicht weniger Geld aus, aber sie geben es überlegter aus. Statt für den eigenen Geburtstag, bestellen sie jetzt lieber unsere Quests für den nächsten Kindergeburtstag.“

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